White Octopus: Lieber Prof. Leif Habenein. Wir haben uns
über unser letztes Buch kennengelernt. Das Buch heißt »Bin ich ein Painpoint?«. Sie haben uns angeschrieben und unser Buch zugleich gelobt und verrissen. Was war Ihre Kritik?
Prof. Habenein: Na, ich fand den Ansatz gut. Über Fragen habt ihr die Mobilitäts- und Logistikbranche aufs Korn genommen. Das war witzig. Das Buch habe ich allen Studierenden empfohlen. Da steckt mehr Zusammenhangswissen drin als in allen Lehrbüchern. Und: Wer schnell liest, hat alle Inhalte in 15 Minuten drin. Jetzt kommt das Aber: Ihr seid nicht radikal genug. Am Ende ist das Buch nur ein, wenn auch sehr gut gemachter, Werbegag.
White Octopus: Kann sein. Aber muss es immer konsequent sein?
Prof. Habenein: Ja, manchmal schon. Vor allem, wenn es um die Verkehrswende geht. Ein Beispiel: Die Autoindustrie ist die Systemfeindin der Verkehrswende …
White Octopus: Warten Sie kurz. Systemfeindin?
Prof. Habenein: Aber natürlich. Sie hat keinen Anreiz, Teil der Verkehrswende zu sein. Sie will Verkehr sein. Sie tut, was sie kann, damit die Menschen Teil des Automobilsystems bleiben. Ganz egal, wie die Autoindustrie ihre Produkte künftig benennt. Es ist ein Systemkonflikt. Fahrzeuge der Autoindustrie gegen alles andere, das ohne diese Fahrzeuge auskommen will. Und es ist ein Wettstreit um Bilder, Konzepte und Wörter – neudeutsch: Framings. Seien Sie sich sicher. Verkehrswende ist nur möglich gegen die Autoindustrie. Niemals mit ihr.
White Octopus: Können Sie das konkretisieren?
Prof. Habenein: Meinetwegen. Lasst uns ein ganz kleines Thema nehmen, an dem wir meine Hypothese testen können. In einer unserer noch unveröffentlichten Studien haben wir herausgefunden, dass im Rahmen der Stadtentwicklung immerzu Wimmelbilder entstehen. Die haben wir gezählt und ausgewertet. Und wir haben uns mit der Geschichte des Wimmelbilds in urbanen Zukunftsvisionen beschäftigt. Die Genese dieser Wimmelbilder geht auf Initiativen der Autoindustrie zurück. Der Trick geht so: Planen sie einen Stadtteil, einen Bahnhof oder einen Platz, dann muss ein Wimmelbild her. Und darauf zu sehen ist dann immer ein Miteinander von Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, innovativen Services und Autos. Aber die Autos auf diesen Wimmelbildern stehen fast nie im Stau. Das Wimmelbild ist locker und leicht, allen geht es gut, es gibt genug Platz für alle. Aber das kann nicht stimmen. Solange Autos irgendwo hinfahren können, entstehen Stau, Lärm und Unwohlsein. Wimmelbilder und auch Fotocollagen zeigen aber das Gegenteil. Das Auto ordnet sich in diese Bilder ein. Aber das Auto lässt sich nicht einordnen. Es lässt sich entfernen. Oder es setzt sich durch. Ein Miteinander, wie es Wimmelbilder zeigen, wird es nicht geben können.
White Octopus: Sie sprechen in einem Interview von »False Balance«.
Prof. Habenein: Genau, denn nichts anderes ist es, wenn Wimmelbilder Autos zeigen. Heute wollen Städte zumeist autoarme Quartiere und Plätze. Jetzt kommen Agenturen und bauen Wimmelbilder zusammen. Und was sehen wir? Prozentual deutlich mehr Autos, als eigentlich notwendig oder erlaubt wären. Es wird eine False Balance gezeigt. Ein zukünftig unerwünschtes Minderheitenverkehrsmittel wird überakzentuiert und als freundlich wirkend hineinmontiert in diese Wimmelbilder. Wir belegen in unserer Studie, dass diese False Balance in über 80 % der Wimmelbilder zur Zukunft der Mobilität stattfindet.
White Octopus: Wir bauen auch solche Wimmelbilder, haben aber nie daran gedacht, dass wir jetzt Systemfeinde oder so was wären. Wo ist der Zusammenhang zwischen Autoindustrie und Wimmelbildern?
Prof. Habenein: Wir haben herausgefunden, dass die meisten dieser Wimmelbilder sehr früh direkt oder indirekt von der Autoindustrie bezahlt oder beeinflusst wurden. Damit hat die Autoindustrie das Wimmelbild als kommunikatives Element der urbanen Transformation gesetzt. Das war ein strategischer Schachzug. Heute denken wir, dass wir Wimmelbilder brauchen. Und immer mit dabei: das Auto. Wir wissen aus verlässlichen Quellen, dass die Industrie sehr früh und gezielt die langfristige Wirkung dieser Collagen und Bilder kannte. Früher als alle anderen. Die Industrie hat schon vor Jahren in der Vergangenheit die Zukunft unterwandert. Das meine ich mit »Systemfeindin«.
Ich könnte mehr Beispiele bringen. Um aber bei diesem Beispiel zu bleiben, sage ich: Wir brauchen ein Moratorium für Wimmelbilder. Wir sollten sie einfach nicht mehr produzieren. Sie suggerieren eine Welt, die nicht funktionieren wird. Lassen wir erst einmal Autos auf Plätze und in Stadtquartiere fahren, bekommen wir sie nur mit großer Anstrengung wieder raus.
White Octopus: Und wie sollte so ein Moratorium funktionieren? Und wie sollen sich die Menschen ein Bild von der Zukunft machen, die keine Profis sind? Wir denken zum Beispiel an Partizipationsprozesse, bei denen solche Wimmelbilder Gespräche anregen.
Prof. Habenein: Die einfachste Lösung wäre es, wenn ihr eure Arbeit richtig machen würdet. Wenn ihr professionell beraten und nicht opportunistisch handeln würdet. Ihr macht euch zum Teil eines Weichspülprogramms. Produziert gerne Wimmelbilder: dann aber richtig und radikal. Keine Autos. Oder eben Stau. Eines geht nur. Das betrifft übrigens die gesamte Kreativagenturszene, die für Geld zu kaufen ist. No offense, aber ich spreche halt gerade mit euch.
White Octopus: Puh, danke Herr Habenein.